Ein Impuls für den Alltag: Die Seele der Menschen und Dinge sehen

Erstellt von mm/tur |

Pfarrer Michael Murner überlegt in seinem Beitrag, ob hinter all den bunten Farben des Herbstes auch ein tieferer Sinn liegen könnte.

Der Herbst taucht die Welt in bunte Farben. Bäume und Sträucher stehen in Gelb, Rot, Braun oder Grün in zahllosen Schattierungen in den Gärten, im Stadtpark und draußen in der freien Flur. Selbst bei Nebelstimmung tupfen die herbstlichen Blätter eine Palette von Farben in die Augen. Gehe ich auf einen Spaziergang in diesen Tagen und nehme dazu eine Fotokamera mit, stelle ich fast immer die Einstellung auf „schwarz-weiß“ oder ich lege einen Schwarz-Weiß-Film in die alte Kamera ein. Nicht, weil ich farbenblind bin oder keine Farben mag. Es ist vielmehr die Wahrnehmung, die ich immer machte, wenn ich die großen Meister der Schwarz-Weiß-Fotografie sah und die mich so fesselt: Mit Farbe fotografiert man die Kleider, und in Schwarz-Weiß die Seele. Das gilt auch für die Landschaften. Sind die bunten Farben weg, tritt in den Grautönen zwischen tiefem Schwarz und reinem Weiß eine eigene Dimension eines menschlichen Gesichts oder einer Landschaft in den Vordergrund. Sie lässt das Wesentliche pointierter aufleuchten, als Farben es können. So ist das zumindest bei den Meistern ihres Faches.

„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an“, heißt es in einer alten biblischen Geschichte, als die Wahl für eine wichtige Aufgabe auf einen Menschen fällt, der dafür zunächst überhaupt nicht im Blick war. Seine verborgene Größe musste erst durch einen Seher entdeckt werden. Es ist eine göttliche Dimension in unserem Blick, wenn sich uns die tieferen Wesenszüge, „die Seele“, von Menschen oder Zusammenhängen eröffnen. Wir müssen dazu öfter und intensiver hinschauen, damit uns das gelingen kann.

Oft haben wir nicht die Zeit oder die Konzentration, die Seele der Menschen und Dinge zu sehen und zu verstehen; dann bleibt unser Blick ganz menschlich begrenzt und wir müssen uns mit der Oberfläche, „den Kleidern“ begnügen. Aber das entmutigt mich nicht. Ich will trotzdem sensibel bleiben für das Wesentliche hinter der bunten Oberfläche – in der Hoffnung gelegentlich doch etwas tiefer zu blicken und zu verstehen.

Denn bei meinen Ausflügen mit der Kamera ist es nicht anders. Wenn ich von meinem Herbstspaziergang ohne ein einziges Schwarzweißfoto heimkomme, mit dem ich zufrieden bin, dann freue ich mich doch, dass ich draußen war und die Fülle der Herbstfarben genießen durfte.

Pfarrer Michael Murner

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